Montag, 19. Mai 2014

[B]: Autonome Politik – Gibt es das überhaupt noch?

Ein sehr schöner Text, wie wir finden, die grauen Zellen anregt und vielleicht hier und da zu Diskussionen führt:

Dieser Text ist eine Entgegnung auf den Text „Stärken und Schwächen autonomer Politik in Berlin“. Er stellt die Frage, ob es überhaupt noch klassische autonome Politik gibt und stellt die These auf, dass sich linksradikale Politik weiterentwickelt hat und klassische autonome Konzepte teilweise nicht mehr befolgt werden. Er reflektiert verschiedene Punkte linken Selbstverständnisses und betrachtet den derzeitigen Stand der linksradikalen Szene.


Ich bin voll autonom!
Das Selbstverständnis von Autonomen und autonomer Praxis sind nicht festgefügt, sondern haben sich im Laufe der Jahrzehnte immer verändert. In Berlin waren über lange Jahre autonome Politikmodelle dominant, in den letzten Jahren werden Gruppen und Bewegungen immer stärker, welche offensiv oder indirekt mit einem klassischen autonomen Selbstverständnis brechen und anderen politischen Theorien folgen. Die klassische autonome Identität der Szene bröckelt immer mehr, ein Prozess der auch zu Verunsicherung führt.

Autonome Politik gründete sich auch in Abgrenzung zu den orthodox kommunistischen K-Gruppen, übernommen wurden aber von diesen bestimmte Konzepte, wie der altbekannte „Revolution/Reform“-Widerspruch. Zwar wurde mit der TripleOppression-Theorie schon früh das Hauptwiderspruchsdenken aufgebrochen, aber trotzdem taucht der Hauptwiderspruch in klassischem autonomen Denken immer wieder auf („Den Kapitalismus überwinden und dann wird alles gut!“).

Ebenfalls beinflusst wurde das autonome Selbstverständnis von anarchistischen Ideen („herrschaftsfrei!“), der Militanz der Post68er-Bewegungen und der kritischen Theorie. Die kritische Theorie wurde häufig als eine klare Absage an eine politische Praxis gelesen, die in den derzeitigen Verhältnissen ansetzt. Autonome schwankten immer zwischen einer grundsätzlichen Negation gegenüber dem Bestehenden und dem Versuch eine alternative Selbstorganisierung zu entwickeln.

Die Autonomen haben teilweise das Avantgarde-Denken der orthodoxen Marxist*innen übernommen, nur dass sie nicht sonderlich erpicht darauf waren, dass ihnen die Massen folgen werden. Avantgarde bezieht sich dann auf eine Art Geheimclub, zu dem nur „wirkliche Revolutionäre“ Zutritt haben, schwarz angezogen und ganz klandestin.

Kennzeichen der autonomen Bewegung war im Gegensatz zu orthodoxen Marxist*innen, aber auch immer eine relativ große Offenheit gegenüber Kritik und neuen Kampffeldern. Die Autonomen haben den Kampf um Freiräume, gegen Nazis und gegen Atomkraft ganz erheblich mitgeprägt und sind für alle bestehenden linksradikalen Gruppen eine wichtige theoretische und praktische Inspirationsquelle. Die Autonomen gibt es und gab es nie. Wenn hier also von klassischen Autonomen geredet wird, ist es eine Fokussierung auf eine bestimmte Form autonomen Selbstverständnisses, welches schon immer auch von Autonomen selbst kritisiert wurde.



Keine Fotos, keine Namen, keine Presse!
Zwar gibt es keine gemeinsame theoretische Grundlage autonomen Selbstverständnisses, aber historisch gewisse Prinzipien, die in der autonomen Szene hochgehalten wurden und werden. Diese sind teilweise stark im Wandel.

„Kamermann-Arschloch“ wird gern und viel auf Demonstrationen gerufen. Gleichzeitig sind Fotos von dem Krawall oder der Demonstration immer ein wichtiges Vermittlungsinstrument gewesen. Noch immer gilt, dass Fotojournalist*innen von der Szene angehalten werden, Gesichter unkenntlich zu machen. Dies macht aufgrund staatlicher Repression auch durchaus Sinn. Trotzdem wird dieses Prinzip zunehmend durchlöchert. Für Mobilisierungen werden Fotos mit erkennbaren Gesichtern benutzt und auf manchen Aktionen wird ganz ungezwungen fotografiert. In anderen Ländern gilt dieses Prinzip ohnehin nicht. Die Bedeutung von Fotos kann an den aufständischen Bewegungen in aller Welt beobachtet werden, durch das Internet hat sich ihre Bedeutung nochmals gesteigert.

Trotz der bekannten Überwachungsschwierigkeiten wird auch das Mittel „Facebook“ immer offensiver von Szenegruppen zur Mobilisierung eingesetzt, auch hier tauchen vielfältig Fotos auf. Auch wenn das autonome Selbstverständnis das offene Bekanntnis im Internet mit Klarnamen zu Politgruppen rundheraus ablehnen würde, ist dies ein weiter zunehmendes Phänomen.

Früher wurde von autonomen Gruppen auch viel stärker propagiert, dass kein Kontakt zur bürgerlichen Presse gepflegt werden sollte. Mittlerweile ist Pressearbeit sowohl für Organisationen wie die Interventionistische Linke als auch für die diversen Kämpfe (Stadt, Antira, Antifa) eine wichtige Praxis. Abstand zur bürgerlichen Presse hält dort niemand.

Schwarze Jacken sind zwar immer noch ein wichtiges Identifikationsmerkmal der „Szene“, aber trotzdem nimmt ihre identifikatorische Bedeutung ab. Eine Nachtwache beim Hungerstreik am Oranienplatz kann auch mit einer blauen Jacke abgehalten werden und es lassen sich viele Plenas besuchen, wo Menschen ohne Szenedresscode keine Blicke auf sich ziehen.

Teil eines autonomen Selbstverständnisses ist auch die Militanz, welche leider viel zu oft als simple Gewalt verstanden wird. Wer unter Anarchie einen Bürgerkrieg versteht, ist ein militaristisches Arschloch. Militanz ist kein Selbstzweck und sicherlich kein Ziel. Wenn auf einer Demo „nichts geht“, ist das kein Ansatzpunkt für Kritik. Denn schlussendlich geht es um die politische Wirkung einer Aktion und nicht darum, ob diese besonders radikal in ihrem Ausdruck ist. Der Rückgang von Straßenmilitanz ist auch dadurch zu erklären, dass die Bedeutung dieser Politikform für viele Menschen immer mehr abnimmt. Wer glaubt, dass die radikalste Praxis die radikalste Militanz wäre, sitzt einem Gewaltdiskurs auf. Radikale Praxis bedeutet Gesellschaftsveränderung und Abbau von Herrschaft, egal ob militant oder „friedlich“. Militanz darf deswegen immer nur ein Mittel sein, wie Pressearbeit, Latschdemo oder breite Bündnisse auch Mittel sein können.

An diesen kleineren Beispielen lässt sich erkennen, dass die Bindungskraft autonomen Selbstverständnisses abnimmt und andere Politikansätze verstärkt in der Szene wirksam werden. Dies kann zum einen an den derzeit agierenden Politgruppen, als auch an der Form der geführten Kämpfe abgelesen werden.


Da ging ja gar nichts!
Die dominanten Kämpfe in der linksradikale Szene bewegen sich auf den Feldern Antirassismus, Antifa, Stadt und Krise.

Krisenproteste sind in den letzten Jahren besonders über das Blockupy-Bündnis vernehmbar, ein Bündnis zwischen IL, UG und diversen, wie es so schön klassisch heißt „reformistischen“ Kräften (Linkspartei, Attac). Antirassistische Proteste werden stark von Geflüchteten selbst organisiert und diese haben nicht unbedingt ein klassisches autonomes Selbstverständnis, gehen offen mit ihren Namen um und laufen auf ihren Demos auch nicht unbedingt in geschlossenen Ketten mit dem obligatorischen Halstuch vor dem Gesicht. Antifaschistische Kämpfe haben sich ebenfalls durch Blockade von breiten Bündnissen und antifaschistischen Institutionen der Zivilgesellschaft und des Staates stark verändert. Der Standard bei Naziaufmärschen ist nun die Sitzblockade, auch mal gern mit der Grünen Jugend und nicht die brennende Mülltonne.

Auch bei Kämpfen in der Stadt stehen nicht mehr die autonomen Freiräume im Mittelpunkt, sondern die Betroffenen von Zwangsräumungen oder Menschen, die unter steigenden Mieten leiden.

Klassische autonome Kampagnen funktionieren zurzeit vorrangig in der Nacht und dort, durchaus erfolgreich. Sie haben dann den größten Widerhall, wenn sie an bestehende Kämpfe anknüpfen. Dies ist ein ebenfalls eigentlich klassisch autonomes Konzept, was noch immer und immer wieder funktioniert. Dagegen sind andere Eigenschaften linken Selbst- bzw. Fremdverständnisses weiter im Umbruch. Der erste Mai wird in der allgemeinen Öffentlichkeit noch immer als Tag des linken Krawalls verstanden. Ein Krawall wie dieser war aber auch, als er noch stattgefunden hat, nicht sonderlich gesellschaftsverändernd, sondern ein medial aufgeblähtes aber diskursiv kontrolliertes Einzelereignis. Und dieses Ereignis hat sich transformiert, von betrunken Steine werfen zu einer großen, linken Latschdemo. Das mögen nun einige beweinen, aber es beweist, dass wer nicht auf gesellschaftliche Veränderungen reagiert am Ende bei folkloristischen Ritualen steckenbleibt. Wer die ARAB-Latschdemo nicht will, müsste einen anderen Ansatz entwickeln, wie es zum Beispiel die unangemeldete 17Uhr-Demo versucht. Steinewerfen am Kotti und dann in U-Haft landen ist sicherlich kein erfolgsversprechender Ansatz.


Reformisten und andere Verräter
Im Text „Stärken und Schwächen autonomer Politik“ wird eine bekannte Kritik an der IL geübt. Diese seien Bewegungsmanager*innen. Und natürlich irgendwie „reformistisch“.

„Reformistisch“ ist eine klassische identitäre Konstruktion. Man selbst ist wirklich „revolutionär“ in Theorie und Ausdruck und der Rest ist ein Haufen von Reformist*innen. Besonders gefährlich sind dabei die Menschen, welche sich zwischen Szene und bürgerlicher Gesellschaft bewegen, diese stehen immer im Verdacht „Verräter“ der Sache zu sein.

Es ist natürlich richtig, dass Bewegungen immer wieder gespalten werden und die „bürgerlicheren“ Teile erneut in die Gesellschaft zurückintegriert werden. Deswegen sollte man versuchen solchen Spaltungen zu begegnen, ein untaugliches Mittel ist dagegen diese Spaltungen möglichst früh schon selbst zu versuchen und alle „Nicht-Revolutionäre“ auszusortieren und dazu aufzurufen nichts mit diesen Leuten zu machen.

Es ist legitim an unterschiedlichen Politikansätzen Kritik zu üben, nichts anderes macht dieser Text. Aber es ist falsch davon auszugehen, dass man selbst die „wahre“ Politik machen würde und alle anderen Ansätze auf jeden Fall ins Verderben führen. Das ist dann sowas wie die orthodoxen K-Gruppen betrieben haben. Dagegen können aus dem autonomen Selbstverständnis auch ganz andere Schlussfolgerungen gezogen werden.


Homo autonomous
Eine linke Szeneidentität muss immer gebrochen, widersprüchlich, labil und somit kontingent sein. Sie muss immer wissen, dass sie selbst nur eine Behelfskonstruktion ist. Sie muss offen nach außen sein und keine Begrenzung.Wir sind keine Helden der Revolution, sondern Menschen, welche Herrschaft internalisiert haben und reproduzieren, wir versagen immer wieder dabei Gesellschaft zu verändern. Wenn wir versuchen in diesen rassistischen, sexistischen und kapitalistischen Zuständen zu überleben und diese gleichzeitig zu verändern, dann machen wir immer wieder Kompromisse und Fehler. Wir sind keine Lichtgestalten, welche mit strafendem Schwert die Feinde der Anarchie niedermetzeln können, sondern ziemlich banale Leute, die versuchen, dass die Verhältnisse zumindest etwas besser werden oder zumindest nicht schlechter. Dabei sollte unsere Perspektive nicht zu kurz sein. Schon vor Jahrhunderten haben Menschen gegen Sklaverei oder die Monarchie gekämpft, wir stehen in einer langen Tradition von emanzipatorischen Bewegungen und Kämpfen. Das klingt jetzt etwas pathetisch, aber es soll darauf hinaus, dass sowohl gesellschaftliche Veränderung möglich ist, als auch leider etwas langwierig. Es wäre zwar sehr praktisch, aber die befreite Gesellschaft lässt sich nicht mit ganz vielen Steinen herbeiwerfen.

Dabei zeigt die etwas unbestimmte Theorie- und Praxissuche der autonomen Bewegung, dass es kein festes Fundament gibt, auf dem sich Gesellschaftstheorie aufbauen ließe. Gesellschaftstheorie und damit Veränderung muss und sollte sich nicht auf Wahrheiten bauen, sondern auf der Dekonstruktion der Wahrheiten auf denen die bestehende Gesellschaft gebaut ist. Wir sollten auf der gemeinsamen Suche sein nach Bruchstellen, nach Rissen in der bestehenden Gesellschaft und diese weiten und nutzen. Wir sollten Herrschaft hinterfragen, theoretisch und ganz praktisch. Und dabei, wenn es zu diesen kurzen und vergänglichen Momenten kommt, wo sich Gesellschaft verändert, wo sich etwas öffnet, auch selbst offen sein und neugierig auf das, was sich entwickelt. Wir haben kein Parteiprogramm, was sich nach der Übernahme des Rathauses und der Radiostation einfach umsetzen ließe, sondern nur die Bereitschaft uns nicht dem bestehenden Herrschaftssystem auszuliefern und alles runterzuschlucken.

Von welcher gesellschaftlichen Position aus greifen wir denn die bestehende Gesellschaft an? Nun ja, es klingt trivial, aber nochmals, von innen. Wir sind Teil der Gesellschaft und ihrer Widersprüche. Auch wenn es sicherlich sehr schön wäre, aber auch unsere eigene Identität ist nicht herrschaftsfrei konstruiert, auch wir selbst sind in den diversen Machttechniken verknüpft. Der „schlaue“ Text ist ganz furchtbar akademisch und schließt Menschen aus, die die vielen Fremdwörter nicht verstehen. Die kraftvolle Demo ist irgendwie so männlich geprägt, die soziale Bewegung vor der Tür theoretisch etwas verkürzt. Diese Widersprüche werden nicht verschwinden.

Die autonome Bewegung "wie früher" ist tot, die Szene hat sich verändert und hat manche Prinzipien über den Haufen geworfen. Die Szene ist eine andere geworden und das wurde in seiner Konsequenz irgendwie noch nicht ganz nachvollzogen. Das Bild des/der "klassischen Autonomen" arbeitet noch immer in unseren Köpfen vor sich hin.

Die Kämpfe und Bewegungen in letzter Zeit setzen an wichtigen gesellschaftlichen Stellen an, diese müssen wir weiterverfolgen. Und wir sollten die Erkenntnisse der autonomen Bewegung reflektieren und weiterentwickeln und dabei nicht auf Identitäten und Prinzipien beharren. Wir müssen ein neues, linkes Selbstverständnis entwickeln, welches im Fluss ist, welches offen ist und nicht eine abgeschlossene Identität konstruiert.

Quelle: Indymedia Linkuntern, 16.05.2014

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